Dienstagmorgen in der Pädagogischen Werkstatt von Ein Quadratkilometer Bildung Berlin-Moabit. Auf dem Plan steht heute »Rucksack«, ein auf den Schulunterricht abgestimmtes Programm zur alltagsintegrierten Sprach- und Familienbildung, das Mehrsprachigkeit fördert und auf gute Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtung und Elternhaus setzt. Durch die große Fensterfront scheint die Sonne auf einen langen Tisch. Zwischen dampfenden Tassen rauchende Köpfe – eine Gruppe von Müttern beugt sich über das verschiedensprachige Rucksack-Material, das die Elternbegleiterin Tülay Bozdağ ausgeteilt hat. In heiterer Stimmung steigern die Frauen Adjektive im Deutschen und vergleichen entsprechende Ausdrücke ihrer Familiensprachen. Aus bunten Pappen, Fäden und Metallringen entstehen erstaunlich stabile Fangbecher. Während des Faltens unterhalten sich die Mütter über die Hausaufgaben ihrer Kinder: »Alles ist ganz anders als bei uns früher«, stellt eine Mutter nachdenklich fest.
Pädagogische Werkstätten vor Ort sind das Herzstück von Ein Quadratkilometer Bildung. »Kein Kind, kein Jugendlicher geht verloren«, lautet das Leitbild des Programms der Freudenberg Stiftung. Ziel ist es, durch den Aufbau lokaler Bildungsnetzwerke auf gerechte Bildungschancen aller Kinder und Jugendlichen in von Armut geprägten Stadtteilen hinzuwirken. An bundesweit zehn Programmorten engagiert sich die Freudenberg Stiftung gemeinsam mit anderen Stiftungen sowie Ländern und Kommunen über einen Zeitraum von zehn Jahren: Es wird ein kleinräumiger und aktivierender Handlungsansatz ausgehend von einer Schlüsselgrundschule in einem sozial belasteten Quartier umgesetzt.
Wie arbeitet eine Pädagogische Werkstatt? Zielgruppe sind diejenigen in Kitas, Schulen und Jugendeinrichtungen des Stadtteils, die das Potenzial zum Lösen der eigenen Probleme besitzen: Leitungspersonen, pädagogische Fachkräfte, auch Ehrenamtliche und Eltern mit Visionen, wie gute Bildung für alle aussieht. In der Pädagogischen Werkstatt sind Praxisbegleiter*innen mit schul- und sozialpädagogischem Know-how und Erfahrungen in der Organisation und Moderation von Entwicklungsprozessen tätig. Ihre Aufgabe ist es, Beteiligte der Netzwerke zu unterstützen, nach geeigneten Praxislösungen zu suchen und geteilte pädagogische Haltungen, Strategien und Inhalte zu entwickeln. Die Pädagogische Werkstatt verfügt über ein Entwicklungsbudget, mit dem beteiligte Bildungseinrichtungen experimentell umgehen können.
»Es hat eine Weile gedauert«, sagt Barbara Kirchner, Leiterin der Pädagogischen Werkstatt Berlin-Moabit, rückblickend, »aber irgendwann hat man uns als Unterstützung wahrgenommen und die Türen öffneten sich«. Was kann erreicht werden, wenn viele Menschen gemeinsam über zehn Jahre für eine Lernkultur eintreten, die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung fördert, in der Kinder und Jugendliche ihr Lernen selbst organisieren und ihre Lernerfolge selbst wahrnehmen?
Ausgehend von den Bedarfslagen der Schüler der Schlüsselgrundschule, der Carl-Bolle-Grundschule – 65 Prozent von ihnen leben im Beusselkiez, einem der ärmsten Gebiete Berlins – konnten in Zusammenarbeit u.a. mit dem Quartiersmanagement Moabit West und dem Bildungsverbund Moabit Veränderungen erzielt werden, die die Bildungssituation für Kinder und Jugendliche des Stadtteils verbessert haben. Unter Mitwirkung der Pädagogischen Werkstatt überarbeitete die Schule ihr Schulprogramm und erweiterte ihr Profil um einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt. Der Übergang von den umliegenden Kitas in die Grundschule ist heute so gestaltet, dass die Kinder Lernräume und Lernanforderungen wiederkennen. Die erfolgreiche Arbeit der Roma-Schulmediatorinnen, die die Pädagogische Werkstatt gemeinsam mit ihrem Träger, der RAA Berlin (Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie e.V.), ausbaute, hat nicht nur die Zielgruppe unterstützt, sondern für eine generelle Öffnung hin zu Themen diversitätsorientierter Bildung gesorgt. Zwischen Schulen und Kitas und dem Jugendamt bestehen wesentlich verbesserte Kontakte. Im Deutschkurs für Frauen kommen Migrantinnen, die schon länger in Berlin leben, mit neuangekommenen Frauen mit Fluchterfahrung zusammen.
»Die Freiheit, mit den Menschen vor Ort passende Lösungen zu entwickeln«, so Kirchner, »ist das Besondere am Programm. Uns werden keine Tools vorgeschrieben. Wir sind in der Lage, zügig niedrigschwellige Angebote aufzubauen.« Sascha Wenzel, Geschäftsführer der Freudenberg Stiftung, ist überzeugt: »Wir sind als Stiftung nicht erfolgreich, wenn wir spezifische Lösungen vorgeben oder den großen Wurf versuchen. Wir können aber lokale Verantwortungsgemeinschaften anregen und uns als deren Teil verstehen. Es gilt, Wege vorzuschlagen und Leitplanken für Veränderungen zu gestalten, die nicht einengen, sondern Möglichkeiten eröffnen.«
Berlin-Moabit, Berlin-Neukölln, Bernsdorf, Dortmund, Fürstenwalde, Herten, Hoyerswerda, Mannheim, Neubrandenburg, Wuppertal und zu Beginn des Schuljahres 2018/19 auch Brandenburg a. d. Havel – so verschieden die Situationen an den Standorten auch sind, der Austausch zu gemeinsamen Arbeitsschwerpunkten wie beispielsweise Sprachbildung, entdeckendes Lernen oder Demokratie leben ist bereichernd und für die Qualitätsentwicklung des Programms unverzichtbar. Die überregionale Lernplattform Ein Quadratkilometer Bildung vernetzt und qualifiziert Schlüsselpersonen aus den Pädagogischen Werkstätten, auch über einen im November 2016 angestoßenen Theorie-Praxis-Dialog mit der Wissenschaft. Im Praxiskolleg Ein Quadratkilometer Bildung, einem eigens für die Mitarbeiter*innen der Pädagogischen Werkstätten konzipierten Weiterbildungsangebot der Universität Hamburg, haben sie die Möglichkeit sich zu Berater*innen für sprachliche Bildung in Netzwerken fortbilden zu lassen.
Was haben die Kinder und Jugendlichen in einkommensarmen Stadtteilen davon? Ist mit der Pädagogischen Werkstatt ein transferfähiges Modell entstanden? Sollten Unterstützungssysteme wie die Pädagogische Werkstatt regelfinanziert werden, wie der ehemalige Neuköllner Bezirksschulrat Meinhard Jacobs es fordert? Ein Quadratkilometer Bildung mit seinem Bottom-up-Ansatz sieht sich einem wohlwollend interessierten Druck ausgesetzt, nachzuweisen, was es bewirkt. Ermutigende qualitative Ergebnisse förderte die eng mit den zuständigen Berliner Senatsverwaltungen abgestimmte Abschlussevaluation des Bildungsnetzwerkes Ein Quadratkilometer Bildung Berlin-Neukölln zu Tage: Die Praxisbegleiter*innen agieren als Change Agents, sie decken in den einzelnen Einrichtungen vorhandene Ressourcen auf, haben das Gesamtsystem im Blick und vermitteln zwischen Institutionen und Ebenen. »Nach derzeitiger Forschungslage«, so die federführende Wissenschaftlerin Dr. Tanja Salem, »kann der Handlungsansatz, mit dem insbesondere in die pädagogischen Fachkräfte investiert wird, mittelbar zur Verbesserung der Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen beitragen.«
In Neukölln öffnet die Pädagogische Werkstatt auch nach Ende der zehnjährigen Programmlaufzeit weiter täglich ihre Türen, inzwischen auf dem neugeschaffenen Campus Rütli -CR2, dessen Entwicklung sie eng begleitet hat. Die Initiatoren des ersten der zehn Programmorte – die Freudenberg Stiftung, die Karl-Konrad-und-Ria-Groeben-Stiftung, die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie – investieren dort seit Ende 2016 gemeinsam mit dem Bezirk Neukölln in eine dreijährige Verstetigungsphase.
In Moabit endet die reguläre Förderung im Sommer 2018. Die Vorbereitungen der Abschlusskonferenz laufen auf Hochtouren, ebenso die Bemühungen, entstandene Module der langjährigen Arbeit vor Ort zu erhalten. »Was kann der Kiez? Was braucht der Kiez?«, fragt eine Zeile des Programmentwurfs auf dem Tisch im Büro der Pädagogischen Werkstatt. Eine Dreijährige hat sich einen der Fangbecher geholt, die eigentlich für ältere Kinder gedacht sind. Wieder und wieder versucht sie, den Ring am Faden hinein zu bugsieren. An Potentialen mangelt es sicher nicht. Es braucht neue Handlungsspielräume und Gelegenheiten, Lösungen mitzugestalten. Die Pädagogischen Werkstätten versuchen einen Beitrag zu leisten, der Spaltung unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Gerecht verteilte Bildungschancen wären ein großer Schritt.
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