Von der Würde des Menschen – weil die Zeit es verlangt

Unter dieser Überschrift erschien im April 2016 der Leitartikel im ExtraBlatt, der Zeitung der 7. Berliner Stiftungswoche – ergänzt um das bekannte Zitat von Erich Kästner. Damals hat die Berliner Stiftungswoche in ihren Medien erstmals breiter auf bestimmte politische Entwicklungen reagiert, die sich nun in den vergangenen Monaten erschreckend zugespitzt haben. Wir nehmen dies zum Anlass, den Leitartikel erneut zu veröffentlichen – getreu dem Motto »Nie wieder ist jetzt!«

 

Die Titelseite des ExtraBlatt, erschienen im April 2016 – zur 7. Berliner Stiftungswoche

Wer selbst große Veranstaltungen organisiert, kennt das Phänomen: Kaum ist die eine Veranstaltung durchgeführt, beschäftigt man sich schon direkt mit der nächsten, die folgen soll. Auch bei der Berliner Stiftungswoche war dies in den vergangenen Jahren so. Direkt nach der Stiftungswoche begann schon die konkrete Themenfindung für das Folgejahr. Im letzten Jahr mit Blick auf 2016 war dies allerdings ein wenig anders: Noch bevor im vergangenen Jahr die Stiftungswoche (…) begonnen hatte, drängte sich schon das nächste Thema auf: die Toleranz gegenüber anderen und der Respekt im Umgang miteinander. Eigentlich selbstverständliche Prinzipien unseres Zusammenlebens; und doch von beklemmender Aktualität.

Denn es hatte sich etwas verändert, in der Politik, in den Medien, auch in den Gesprächen am Arbeitsplatz und in manchem Freundeskreis. In einigen Städten wurde begonnen, einmal wöchentlich abends durch das Zentrum zu »spazieren«. Mancherorts ist das bis heute so. Doch die selbst ernannten »besorgten Bürger« mit ihren diffusen Ängsten bringen einen Ton auf die Straße, in die politischen Debatten und in die sozialen Netzwerke, der herabsetzt, demütigt und spaltet. Politiker werden bedroht, Medien pauschal als »Lügenpresse« diffamiert und unverhohlen rassistische Ressentiments verbreitet. Es geht gegen alle, die anders denken, anders aussehen, anders glauben oder aus anderen Ländern zu uns kommen. Und es geht allgemein gegen die Würde des Menschen, wenn die Würde einzelner Menschen verletzt wird!

Seit dem Sommer 2015, seitdem immer mehr Menschen in Deutschland Zuflucht vor Krieg und Vertreibung gesucht haben, hat sich dies noch weiter zugespitzt und in verschiedene Richtungen entwickelt. Gelebte Willkommenskultur mit enormer Hilfsbereitschaft auf der einen Seite sowie unzählige Attacken auf schutzlose Menschen und ihre Unterkünfte auf der anderen Seite – so gespalten zeigt sich unsere Gesellschaft. Bundespräsident Joachim Gauck hat im August 2015 bei dem Besuch einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin für diese zweite Seite den Begriff »Dunkeldeutschland« geprägt. Und dem gegenüber gibt es ein »helles Deutschland, das sich leuchtend darstellt«.

Vor diesem Hintergrund wurde in den Diskussionen der Berliner Stiftungsrunde schnell klar, dass die diesjährige Stiftungswoche angesichts dieser Entwicklung Flagge zeigen muss. Die alljährlichen Schwerpunktthemen sollen wie ein Brennglas die Aufmerksamkeit auf einen zentralen Aspekt in der Arbeit der Stiftungen legen und deren Engagement sichtbar machen. »Von der Würde des Menschen« – mit dieser Formulierung knüpft das Thema ganz bewusst an Artikel 1 des Grundgesetzes und an das Fundament der Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen an. Denn das ist es, was zählt. In über 100 Veranstaltungen, Ausstellungen und Projektpräsentationen werden die teilnehmenden Stiftungen während der 7. Berliner Stiftungswoche genau dies tun: berichten, wie sie in ihrer täglichen Arbeit mithelfen, die Würde des Menschen zu wahren, zu schützen, zu verteidigen und stets neu zu erringen. Das verlangt unsere Geschichte, im Kleinen wie im Großen, im sozialen Umfeld wie im politischen Kontext, als universelle Frage von Moral, Ethik und dem Ringen um ein versöhnendes Gemeinwohl.

Wir sind gespannt auf eine wirklich breit gefächerte Stiftungswoche – und wünschen Ihnen eine anstiftende Lektüre der neuen ExtraBlatt-Ausgabe!

 

Quelle: »Von der Würde des Menschen – weil die Zeit es verlangt«,
von Stefan Engelniederhammer, erschienen im ExtraBlatt,
Zeitung der Berliner Stiftungswoche, Ausgabe April 2016

 

 

»Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muß den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. (…) Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben. Es ist eine Angelegenheit des Terminkalenders, nicht des Heroismus.«

 

Erich Kästner: »Über das Verbrennen von Büchern«,
Rede am 10. Mai 1958, anlässlich der PEN-Tagung in Hamburg