»Freiräume schaffen, wo sie immer kleiner werden«

Mit Esra Küçük hat die Allianz Kulturstiftung eine neue Geschäftsführerin, die sich in der Berliner Kulturwelt bestens auskennt. Zuvor leitete die Politikwissenschaftlerin das Gorki Forum, das als Schnittstelle zwischen Kultur, Wissenschaft und Politik agiert. Die Berliner Stiftungswoche traf sich mit ihr zum Gespräch.

 

Seit dem Sommer sind Sie die neue Geschäftsführerin der Allianz Kulturstiftung. Zuvor waren Sie drei Jahre am Maxim Gorki Theater. Welche Erfahrungen nehmen Sie mit in die Stiftungswelt?

Ich war in den letzten Jahren sehr nah an der Kunst- und Kulturproduktion dran und habe eng mit Künstlerinnen und Künstlern gearbeitet, also mit denjenigen die wir mit unserer gemeinnützigen Förderung hier in der Allianz Kulturstiftung unterstützen. Es ist sehr hilfreich, nun als Förderer seine Zielgruppe und deren Bedürfnisse gut zu  kennen und die Perspektive entsprechend wechseln zu können. Im Theater wird mit aufwendigen Produktionen oft viel gewagt und ein Diskurs angestoßen. Ich denke, die Bereitschaft risikofreudig zu agieren, aber auch vom Scheitern zu lernen ist in der Kunst- und Kulturwelt eher vorhanden: Dort wird direkt nach konkreten Lösungen gesucht und nicht erst ein Arbeitskreis gegründet. Das sind unterschiedliche Dynamiken und Arbeitskulturen. Diese Erfahrungen würde ich gern in die Stiftungswelt überführen.

Das klingt nach einer großen Herausforderung, die Stiftungswelt für mehr Risiko öffnen zu wollen.

Es gibt mittlerweile einige Stiftungen, die es aus guten Gründen in Kauf nehmen, dass ein bestimmter Anteil ihrer Projekte am Ende nicht realisiert wird, wenn sie dafür im Gegenzug in einem hoch dynamischen Feld mit hoher Innovationskraft arbeiten. Mich beschäftigt aber eher die Frage, wo wir mit unseren Mitteln wirklich einen Unterschied machen können. Ich würde gerne schon beim Festlegen von Förderkriterien und Schwerpunkten die Künstlerinnen und Künstler mit einbeziehen.  Das könnte zur Schärfung von Filter und Fokus beitragen. Es geht auch um die Frage, wer eigentlich an den entscheidenden Hebeln sitzt. Es gibt Studien, die schlüsseln diese Entscheidungsstrukturen in Stiftungen auf. Und das Ergebnis ist, dass es häufig einen großen Unterschied zwischen den Entscheidern auf der einen und den Geförderten auf der anderen Seite gibt. Stiftungen, die etwa auf Themen wie Diversity spezialisiert sind, haben nicht unbedingt ein besonders diverses Team. Genauso werden in Stiftungen zur Kunst- und Kulturförderung nicht immer automatisch auch Künstlerinnen und Künstler beteiligt. Dies ist jedoch wichtig, um die verschiedenen Perspektiven und Dimensionen zu verstehen.

Welche Themen möchten Sie in Zukunft behandeln?

Prinzipiell initiieren und fördern wir translokale Kulturprojekte in Europa und im Mittelmeerraum, die zum grenzüberschreitenden Dialog beitragen. Da geht es uns nicht so sehr um Spitzenförderung, sondern eher um Nachwuchsförderung. Ganz spezifisch beschäftigen mich gerade Fragen von gesellschaftlichem Zusammenhalt in Europa. Wie kann Kultur dazu beitragen, dass sich die Gesellschaft nicht entzweit, wie zum Beispiel im Stadt- und Landgefüge bei kulturellen Angeboten und in der Bildung. Oder bei Fragen der sozialverträglichen Digitalisierung: Wie können beispielsweise alle Altersklassen einbezogen werden? Nicht zuletzt treibt mich die Frage um, wie wir mit heterogenen Gesellschaftsstrukturen umgehen und wie die Kultur zur Vermittlung beitragen kann. Das sind gleich mehrere Themen, die die Gesellschaft schichtenübergreifend polarisieren.

Wenn Themen polarisieren, dann werden sie schnell politisch…

Ich glaube, »politisch« ist hier nicht der richtige Ausdruck. Aber was versteht man unter dem Begriff »politisch«? Ich habe ein sehr breites Verständnis davon, denn eigentlich ist alles, was wir tun politisch. Sobald ich morgens aufwache und die erste Entscheidung des Tages treffe – nehme ich das Rad oder das Auto, koche ich mir einen fair gehandelten Kaffee zu Hause oder kaufe ich mir auf dem Weg einen Cappuccino im Plastikbecher? – handle ich politisch. Dasselbe gilt für die Frage, wen unser Kulturangebot repräsentiert, wen es anspricht und wen eben nicht. Was erfahren wir darüber, dass gewisse Gruppen außen vor bleiben oder gewisse Kunstformen sehr viel weniger Chancen auf eine Förderung erhalten. Ich mache mir viele Gedanken darüber, in welchem Bereich wir als Stiftung Wirkung entfalten können und ob das nur durch die Vergabe von Fördergeldern geschehen kann oder vielleicht auch mit Hilfe von besonderen Kooperationen und Allianzen, die wir zur Überwindung von Spaltungen initiieren. Da spielt das Thema Rückgewinnung von  Freiräumen und Freiheiten für Kunst- und Kulturschaffende eine große Rolle. Das sind derzeit die gesellschaftlich relevanten Fragen für mich – das fasst es vielleicht besser als der Begriff »politisch«.

Also mehr Konzepte und innovative Idee und in der Summe weniger »L’art pour l’art«-Projekte?

Ja, die Fragen des Zusammenhalts spielen sich auf allen Ebenen ab. Das heißt, es wird automatisch auch um die Frage gehen, wie wir als europäische Gesellschaft leben wollen, wie wir uns innereuropäisch vernetzen können und welchen Beitrag unsere Projekte leisten können. Es geht darum, Begegnungen zu schaffen und in Dialog zu treten. Hier kann die Kultur einen entscheidenden Beitrag leisten.

Welche Rolle spielt Berlin für Sie in diesem Dialog?

Berlin kommt derzeit eine herausragende Rolle zu. Einmal international, weil die Stadt eine wahnsinnige Sogwirkung besitzt: Es gibt hier noch Freiräume, die an anderer Stelle auf der Welt hart umkämpft sind und immer kleiner werden. Zum anderen schafft die spezielle Geschichte der Stadt und ihre Eigendynamik ein unglaublich inspirierendes Umfeld für Kunst- und Kulturschaffende.

Freiräume werden leider auch in Berlin immer knapper. So stellen wir für die 10. Berliner Stiftungswoche die Frage »Wem gehört die Stadt?«

Ja, Freiräume werden knapper, gerade wird zum Beispiel diskutiert, ob das Tempelhofer Feld doch wieder bebaut werden soll. Aber in den Rankings unter den beliebtesten Städten steht Berlin international ziemlich weit oben. Unter anderem, weil wir hier eine breite Förderstruktur und viele kulturelle Einrichtungen haben. Wir sehen aber auch, dass derzeit viele im Exil lebende Kulturschaffende nach Berlin kommen, die anderorts mit ihrer Arbeit eingeschränkt oder bedroht werden. Dadurch entwickelt sich gerade hier eine dynamische Kultur mit neuen Einflüssen. Ich sehe aber auch den politischen Willen, Freiräume zu bewahren. Diesen Umstand müssen wir nutzen. Berlin hatte schon immer den Ruf, nicht so abgehoben und eher bodenständig zu sein. Trotzdem zieht es auch die großen Namen hierher. Dadurch entsteht viel Reibung, aber auch fruchtbare Debatten zur kulturellen Entwicklung der Stadt. Für mich wäre es spannend, wenn wir uns im Rahmen der Berliner Stiftungswoche »Wem gehört die Stadt?« Gedanken darüber machen, wer eigentlich durch die Kulturangebote der Stadt bisher nicht angesprochen wird und warum das so ist.

Dieses Spannungsverhältnis prägt zum großen Teil die Stadt. Wie kann sich die Stiftungswelt daran beteiligen und noch mehr Menschen zu gesellschaftlichem Engagement führen? Informationen und Aufrufe zur Partizipation sind sicherlich nur zwei Möglichkeiten.

Die Engagementkultur in Deutschland ist besonders auch in der »unorganisierten« Zivilgesellschaft weit verbreitet. Deutschland hat eine breit angelegte Engagement und Ehrenamtskultur. Ein Beispiel: Seit 2015 waren über 20 Millionen Menschen in der Arbeit mit Geflüchteten aktiv. Wir haben das unter dem Begriff »Willkommenskultur « diskutiert. Heute sind es nach wie vor acht Millionen Menschen. Das ist ein starkes und ermutigendes Signal für die Zivilgesellschaft. Stiftungen können dort mit den richtigen Ansätzen andocken und herausfinden, wie wir diejenigen noch besser unterstützen können, die wiederum andere unterstützen.

Was werden Sie also als erstes fördern?


Wir haben vor kurzem bekanntgegeben, dass wir das Residenzprogramm »Artists at Risk« weiter fördern werden. Seit 2016 unterstützen wir Künstler und Autoren aus dem Mittelmeerraum, die sich in ihren Heimatländern nicht frei bewegen und entfalten können, weil ihre Arbeit zensiert wird oder sie zur Flucht gezwungen sind. Hier können sie sich vernetzen und weiter professionalisieren. Mit dem Projekt wollen wir genau dort Freiräume schaffen, wo sie immer kleiner werden. Generell werden uns auch Fragen von Zusammenhalt weiter beschäftigen. Wie geht Europa mit steigendem Rechtspopulismus und mit den Fragen rund um Migration und Flucht um. In diesem Sinne ist auch das Begleitprogramm zur Ausstellung »Europa und das Meer« im Deutschen Historischen Museums verortet, das wir gemeinsam gestalten. Die Ausstellung reflektiert über 1.500 Jahre Geschichte des europäischen Kontinents mit diesem Meer. Und sie zeigt, dass Europa sehr viel länger ein Auswanderungs- als ein Einwanderungskontinent war. Aus dieser historischen Langzeitperspektive heraus lässt sich die aktuelle Debatte über Zuwanderung ganz anders einordnen; manches relativiert sich dadurch auch. Mit diesem historischen Wissen, Dinge neu zu denken, Verantwortung zu übernehmen und entsprechend zu handeln, scheint mir heute besonders wichtig zu sein.

 

Mit Gesprächsreihen und Projekten, die die Vielfalt unserer Gesellschaft beleuchten und sich aktiv in Prozesse einmischen, machte sich Esra Küçük schon in der Stiftung Mercator als Gründerin der Jungen Islam Konferenz einen Namen.