Am 20. April 2017 hielt Altbischof Wolfgang Huber im Allianz Forum Pariser Platz die 6. Berliner Stiftungsrede zum Thema "Was uns zusammenhält". (Foto: Yehuda Swed / BSW)

Am 20. April 2017 hielt Altbischof Wolfgang Huber im Allianz Forum Pariser Platz die 6. Berliner Stiftungsrede zum Thema "Was uns zusammenhält". (Foto: Yehuda Swed / BSW)

Am 20. April 2017 hielt Altbischof Wolfgang Huber im Allianz Forum Pariser Platz die 6. Berliner Stiftungsrede zum Thema "Was uns zusammenhält". (Foto: Yehuda Swed / BSW)

Am 20. April 2017 hielt Altbischof Wolfgang Huber im Allianz Forum Pariser Platz die 6. Berliner Stiftungsrede zum Thema "Was uns zusammenhält". (Foto: Yehuda Swed / BSW)

Am 20. April 2017 hielt Altbischof Wolfgang Huber im Allianz Forum Pariser Platz die 6. Berliner Stiftungsrede zum Thema "Was uns zusammenhält". (Foto: Yehuda Swed / BSW)

Wolfgang Huber: Was uns zusammenhält

Am 20. April 2017 hielt Altbischof Wolfgang Huber im Allianz Forum Pariser Platz die 6. Berliner Stiftungsrede. Die Berliner Stiftungsrede ist seit 2012 fester Bestandteil der Berliner Stiftungswoche: In den vergangenen Jahren haben Peer Steinbrück, Robert Menasse, Harald Welzer, Monika Grütters und Udo Di Fabio die Berliner Stiftungsrede gehalten. An dieser Stelle lesen Sie das vollständige Redemanuskript.

 

I.

In den vergangenen Wochen hatte ich verschiedene Gelegenheiten, Deutschland von außen zu betrachten. Zwei Reisen führten mich nach Südafrika und in die USA. Jeder Besuch in Südafrika konfrontiert mich mit dem Kontrast zwischen dem Reichtum des Landes und der Schärfe seiner Konflikte. Das reichste Land auf dem afrikanischen Kontinent, beschenkt nicht nur mit Schönheiten der Natur, sondern auch mit Bodenschätzen ohnegleichen, hat es in einem Vierteljahrhundert nicht geschafft, die Wunden der Apartheid zu schließen und ihre Spuren zu verwischen. Die Politik der ethnischen Trennung zeigt ihre Folgen in Gestalt einer räumlichen Ungerechtigkeit, die an den immer noch wachsenden Townships auf der einen und gated communities auf der anderen Seite offenkundig wird. Diese Ungerechtigkeit lässt sich nur schwer beseitigen. Denn räumliche Festlegungen und bauliche Gestaltungen bleiben für lange Zeit. Sie sind nachhaltig, ob man das will oder nicht. Zugleich legt sich der Mehltau der Korruption über das Land. Eine an demokratischen und rechtsstaatlichen Werten orientierte Verfassung wird in einer Weise ausgebeutet, die das Vertrauen in die Institutionen des Gemeinwesens aushöhlt.

Eine zweite, ganz anders geartete Erfahrung hatte ich in den USA. Die meisten Menschen, die ich traf, befanden sich in einer Art Schockstarre. Das Erschrecken befällt inzwischen auch einen Teil derer, die für Donald Trump als Präsidenten gestimmt haben. Manche stellen diesen Schock, bei allen Unterschieden, dem Trauma des Jahres 2001 zur Seite. Der Rede von 9/11, dem von den Terroranschlägen in New York und Washington geprägten 11. September 2001, tritt eine neue Rede von 11/9 zur Seite, dem 9. November 2016, an dem die Amerikaner beim Aufwachen einen neuen Präsidenten hatten. Die Folgen für ihr Land und für die Welt können sich viele auch Monate später noch nicht ausmalen. Dem europäischen Besucher begegnen die USA als ein tief polarisiertes Land: Jeder Vorgang, jede Entscheidung, jedes Argument wird auf die möglichen Folgen für diese Polarisierung abgeklopft. Politische Konstellationen auf Sachfragen zurückzuführen, scheint schier unmöglich zu sein. Manche träumen von einer neuen Sezession unter Führung von Kalifornien und New York. So abstrus das klingt, so verweist es doch auf ein Problem des sozialen Zusammenhalts, der durch politische Polarisierung unterspült wird. Vergleichbare Prozesse in Europa und seinen Nachbarregionen liegen nicht fern. Die Nachrichten aus der Türkei beschäftigen uns in dieser Woche wieder Tag für Tag. Gemessen an solchen Beispielen steht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland vergleichsweise gut. Dennoch klagen wir über dessen Brüchigkeit. Eine wachsende Disparität zwischen Arm und Reich, zunehmende Kriminalität, die Erosion verbindlicher Werte und Verhaltensweisen, die Auflösung von Formen des gemeinsamen Lebens, vor allem der Familie, die Herausforderungen durch Zuwanderung, die Bedrohung des Zusammenhalts durch populistische Beschwörungen vermeintlicher Gefahren: auf vielerlei Weisen lässt sich beschreiben, dass auch hierzulande der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht mehr das ist, was er einmal war.

Bei solchen Beschreibungen kommt es oft nicht auf den Wahrheitsgehalt an; es geht nur darum, dass eine ausreichende Zahl von Menschen sie für wahr hält. Auch faktenfreie Wahrnehmungen der Wirklichkeit sind ein Teil der gesellschaftlichen Realität, manchmal einflussreicher als die Fakten selbst. Leicht entkommen kann man dieser Falle nicht: Jeder sieht die Wirklichkeit aus der Perspektive seiner grundlegenden Überzeugungen. Soziale Konstellationen betrachten wir immer nach Wahrnehmungsmustern, die wir uns angewöhnt haben; die Fragen, die wir mitbringen, prägen die Antworten, die wir finden. Von diesem Mechanismus ist niemand völlig frei. Distanz dazu gewinnen wir allenfalls durch einen offenen Dialog, der nicht nur darauf aus ist, andere zu überzeugen, sondern ebenso darauf, eigene Urteile zu revidieren. Doch dazu muss man sich selbst unbequeme Fragen stellen, zu denen ich Sie heute Abend einladen will: Lege ich mir Rechenschaft darüber ab, wie meine Meinungen sich auf meine Wahrnehmung der Wirklichkeit auswirken? Wann habe ich zum letzten Mal meine Meinung geändert, weil ich eine Tatsache nicht beachtet hatte? Wann habe ich meine Position revidiert, weil ein anderer mich überzeugt hat? Wer über die Protagonisten des postfaktischen Zeitalters schimpft, ist, so meine ich, zu solchen selbstkritischen Betrachtungen verpflichtet.

Bei solchen Beschreibungen kommt es oft nicht auf den Wahrheitsgehalt an; es geht nur darum, dass eine ausreichende Zahl von Menschen sie für wahr hält. Auch faktenfreie Wahrnehmungen der Wirklichkeit sind ein Teil der gesellschaftlichen Realität, manchmal einflussreicher als die Fakten selbst. Leicht entkommen kann man dieser Falle nicht: Jeder sieht die Wirklichkeit aus der Perspektive seiner grundlegenden Überzeugungen. Soziale Konstellationen betrachten wir immer nach Wahrnehmungsmustern, die wir uns angewöhnt haben; die Fragen, die wir mitbringen, prägen die Antworten, die wir finden. Von diesem Mechanismus ist niemand völlig frei. Distanz dazu gewinnen wir allenfalls durch einen offenen Dialog, der nicht nur darauf aus ist, andere zu überzeugen, sondern ebenso darauf, eigene Urteile zu revidieren. Doch dazu muss man sich selbst unbequeme Fragen stellen, zu denen ich Sie heute Abend einladen will: Lege ich mir Rechenschaft darüber ab, wie meine Meinungen sich auf meine Wahrnehmung der Wirklichkeit auswirken? Wann habe ich zum letzten Mal meine Meinung geändert, weil ich eine Tatsache nicht beachtet hatte? Wann habe ich meine Position revidiert, weil ein anderer mich überzeugt hat? Wer über die Protagonisten des postfaktischen Zeitalters schimpft, ist, so meine ich, zu solchen selbstkritischen Betrachtungen verpflichtet. Manche dieser Protagonisten machen allerdings von dem Wechselspiel zwischen Vorurteil und Wirklichkeit einen besonders ungehemmten, ja zynischen Gebrauch. Sie erklären ungescheut, dass es auf die Überprüfung von Vorurteilen an der Wirklichkeit gar nicht ankommt. Diese Vorurteile zu stabilisieren und politisch auszubeuten, ist das Ziel. Sie pflegen eine Selbstgerechtigkeit, die die richtige Erkenntnis nur bei sich selbst und den Irrtum nur beim andern sieht. Solche Selbstgerechtigkeit tötet den öffentlichen Diskurs; sie schließt die Beteiligten im Kokon der eigenen Überzeugung und im geschlossenen Zirkel Gleichgesinnter ein.

Sie antwortet auf die Pluralisierung der Gesellschaft mit einer neuen Form von Subkultur; ich meine die Subkultur der Selbstgerechtigkeit. Mag der Vergleich mit anderen Ländern auch entlastend sein, so haben wir doch gute Gründe dafür, uns um die Kohäsionskräfte in unserer Gesellschaft Sorgen zu machen und uns um deren Stärkung zu bemühen. Die Polarisierung schreitet fort; Zuwanderer und Asylsuchende sind die beliebteste Projektionsfläche für Horrorszenarien im Blick auf die künftige Entwicklung; das weckt auf der anderen Seite eine Neigung dazu, alles zum Guten zu kehren und vorhandene Schwierigkeiten kleinzureden. Apokalyptische Szenarien auf der einen und verharmlosende Euphorie auf der anderen Seite waren schon immer Geschwister. Zwischen ihnen zerbröselt der nüchterne Blick auf die Wirklichkeit. Noch einmal zeigt sich: Wir brauchen Räume und Anlässe, bei denen wir die Revision eingelebter Vorurteile zum Thema machen. Einmal im Monat wenigstens eine Debatte im Freundeskreis: How my mind has changed. Oder: Welches Vorurteil ich verlernt habe. Die kritische Selbstprüfung schließt ein, ob man die Gegenposition zur eigenen Überzeugung in ihren Stärken beschreiben kann. Das ist nicht nur ein gutes Debattentraining; es hilft auch dabei, den Vertreter der Gegenposition zu respektieren. Dass möglichst viele Menschen das lernen, ist eine unentbehrliche Voraussetzung für den Zusammenhalt einer pluralistischen Gesellschaft.

II.

Für viele einzelne unter uns, für erstaunlich große Teile der Zivilgesellschaft und für zahlreiche Stiftungen war der Zuwanderungsschub seit dem 5. September 2015 eine Bewährungsprobe. Sie hat gezeigt, was dem gesellschaftlichen Zusammenhalt ganz besonders dienlich ist. Es ist die Zeitspende, zu der Menschen bereit sind. Mehr noch als den Einsatz von Geld bewundere ich den Einsatz der Zeit von Hunderttausenden von Menschen. Sie tragen durch ihre Zeitspende dazu bei, dass unsere Gesellschaft dieser großen Herausforderung gewachsen ist. Keine Pegida-Demonstration kann diesen Befund verdunkeln: Unser Land hat gezeigt, dass es einer solchen Aufgabe gewachsen ist - den notwendigen Übergang aus dem anfänglichen Administrationsversagen zu geordneteren Verhältnissen eingeschlossen. Dieser Weg muss weiter gegangen werden; dabei werden unbequeme Fragen zu stellen sein. Was können nicht nur der Staat, sondern auch die Zivilgesellschaft - zum Beispiel Stiftungen, Entwicklungsinitiativen, kirchliche Beiträge eingeschlossen - tatsächlich tun, um Fluchtursachen abzubauen, die Unterbringung von Flüchtlingen in ihren Nachbarländern menschenwürdig zu gestalten, aber auch mit der humanitären Situation in den Herkunftsländern und den Behauptungen über sichere Drittländer redlich umzugehen? Wie mutig müssen wir werden, um die Kapazität zur Aufnahme von Flüchtlingen in unserem Land aufrecht zu erhalten? Persönlich stehe ich auf der Seite derer, die in der Flüchtlingsbewegung nicht nur eine Herausforderung der großen Städte, sondern unseres ganzen Landes in seiner Vielfalt sehen. Das aber bedeutet, dass man nicht nur die staatlichen Angebote steuern muss. Steuern muss man auch die Flüchtlingsströme selbst. Ebenso wie zu Recht gefordert wird, dass sie in Europa gerecht verteilt werden, müssen sie auch im Land so verteilt werden, dass die Herausforderung bewältigt werden kann. Menschen kommen nach Deutschland und suchen Hilfe. Sinnvolle Wohnsitzsteuerung, die angemessene Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten berücksichtigt, sollte nach meiner Auffassung kein Tabu sein. Man sollte sogar in Berlin manchmal über die eigenen Grenzen hinausschauen. Wer sich die Initiativen deutscher Landkreise zur Unterbringung und Beschäftigung von Flüchtlingen und Asylsuchenden vor Augen führt, kann lernen, dass nicht nur die großen Städte in dieser Hinsicht Sinnvolles leisten.

Die Erfahrungen der letzten anderthalb Jahre zeigen exemplarisch, dass es beim Zuwanderungsprozess um den Zusammenhalt der Gesellschaft im Ganzen geht. An diesem Integrationsprozess muss sich die Wohnbevölkerung ebenso beteiligen wie die Zuwanderer. Das geschieht gerade in Berlin in hohem Maß. In allen Berliner Bezirken gibt es Flüchtlingsinitiativen. Aber wir sehen auch die negativen Folgen, die sich aus dem Eindruck mancher Menschen ergeben, ihre Probleme kämen nicht zur Sprache, sie selbst kämen nicht mehr vor, um sie kümmere sich keiner. Der Einwand, Politik müsse immer dort eingreifen, wo "Not am Mann" oder an der Frau ist, scheint nicht mehr zu ziehen. Vielmehr werden auch dort Beschwerden der geschilderten Art laut, wo es sich eigentlich nur um Phantomschmerzen handeln kann. Dieser Eindruck kann nur durch Gespräche und das heißt vor allem: geduldiges Zuhören eingedämmt und korrigiert werden. Hinter unhaltbaren Vorwürfen die wirklichen Bedürfnisse herauszuhören und Menschen dabei zu unterstützen, wie sie ihr Leben selbst besser in die Hand nehmen können, ist die große Aufgabe. Hilfe zur Selbsthilfe ist nicht nur ein Konzept für Entwicklungsländer. Es gibt Bevölkerungsgruppen in unserem eigenen Land, für die man auf die Methode "Hilfe zur Selbsthilfe" zurückgreifen muss, um sie aus dem beharrlichen Selbstmitleid herauszuholen.

Doch die Aufgabe geht darüber hinaus. Ich zitiere einen Stifter, der nicht aus Berlin stammt, den ehemaligen Fußball-Nationalspieler Christoph Metzelder. Er sagt: "Der soziale Frieden in unserem Land wird auf Dauer gefährdet sein, wenn wir es nicht schaffen, jedem jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, seine Träume zu erfüllen." Und er fügt hinzu: "Mit Integration sind zum einen Kinder aus den Krisenregionen dieser Welt gemeint, die unbegleitet oder mit ihren Familien Zuflucht in Deutschland gesucht haben. Zum anderen meinen wir aber auch explizit diejenigen in unserer Gesellschaft, die sich als Verlierer fühlen. (Junge) Menschen, die sich in unserer Mitte nicht mehr integriert fühlen und nicht auf die Art und Weise am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, wie es sein sollte." Auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt von diesen beiden Seiten aus zu schauen, ist entscheidend. Voraussetzung ist, dass wir die Kommunikationsbarrieren überwinden, innerhalb deren wir uns immerzu unter Gleichgesinnten austauschen. Sehr gespannt bin ich beispielsweise darauf, ob der Evangelische Kirchentag im nächsten Monat in unserer Stadt zur Überwindung solcher Kommunikationsbarrieren beitragen wird. Dass er von vornherein auf Ausgrenzungsbeschlüsse - beispielsweise gegenüber der AfD - verzichtet hat, halte ich in diesem Zusammenhang für richtig.

Doch der Einwand liegt auf der Hand: Über Vorurteile kann man nicht diskutieren. Menschenfeindliche Äußerungen verdienen nur eine Antwort, ein klares Nein. Doch so richtig dieses Nein ist - die Aufgabe der Kommunikation ist damit nicht zu Ende, sondern sie fängt damit erst an. Wer gesellschaftlichen Zusammenhalt will, muss zwischen der Abgrenzung von inakzeptablen Positionen oder Handlungen und der Ausgrenzung von Personen unterscheiden. Menschen sind für ihre Äußerungen und Handlungen verantwortlich; sie müssen Rechenschaft ablegen über das, was sie sagen oder tun. Aber die Person ist mehr als ihre Taten; auch mit ihren Untaten ist sie nicht gleichzusetzen. Ein Mensch ist mehr als seine Worte; nicht einmal mit seinen Lügen ist er gleichzusetzen. Man kann, so scheint mir, nicht mit Pomp und Gloria 500 Jahre Reformation begehen und über die elementare Einsicht schweigen, die sie in dem sperrigen Gedanken der Rechtfertigung des Menschen durch Gottes Gnade verpackte. Dieser Gedanke enthält die elementare Einsicht, dass der entscheidende Grund für die Anerkennungsfähigkeit des Menschen nicht in seinen eigenen Leistungen liegt. Denn wäre das der Fall, dann wäre jeder Mensch, der in seinen Leistungen oder Haltungen versagt, nicht mehr eine Person, die Anerkennung verdient. Eine Gesellschaft, in der es sich so verhielte, nennen wir auch heute noch gnadenlos. Der Zusammenhalt einer Gesellschaft erfordert, dass wir dieser Gnadenlosigkeit nicht das letzte Wort lassen. Vielmehr müssen wir auch denjenigen als Person achten, dessen Äußerungen über andere von Verachtung geprägt sind. Solche Achtung zeigt sich in der Bereitschaft zur Kommunikation. Deren Ernstfall ist der Konflikt zwischen widerstreitenden Haltungen. Hinter jeder Krise des gesellschaftlichen Zusammenhalts steckt - auch - ein Kommunikationsproblem. Bevor wir erschreckt über die Stimmengewinne von populistischen Parteien klagen oder politische Fehler für diese Stimmengewinne verantwortlich machen, sollten wir uns fragen: Wann habe ich das letzte Mal versucht, jemanden von einer solchen Wahlentscheidung abzubringen? Wann bin ich das letzte Mal einem solchen Gespräch nicht ausgewichen, sondern habe mich ihm gestellt? Noch einmal: Bei solchen Versuchen kommt es nicht nur darauf an, Positionen zu widerlegen, sondern die Bedürfnisse zu besprechen, die sich in ihnen - und sei es noch so verquer - melden. Und das, so weit es nur geht, in einer konkreten, von Floskeln freien Sprache, verpflichtet auf den Grundsatz gewaltfreier Kommunikation.

III.

Solche Vorschläge klingen in Ihren Ohren vielleicht zu fordernd. Aber sie sind praktisch unentbehrlich. Denn Kommunikationsverweigerung ist eine schwere Schädigung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Doch bei dieser Gelegenheit müssen wir einen Augenblick innehalten, um zu fragen: Was verstehen wir unter gesellschaftlichem Zusammenhalt? Welche Verantwortung tragen die einzelnen und welche Aufgaben trägt die Gesellschaft im Ganzen? Frühere Generationen hielten diesen Zusammenhalt für vorgegeben. Gesellschaftliche Verhaltensmuster und Autoritätsstrukturen, Gehorsam und Zwang eingeschlossen, sollten sicherstellen, dass das notwendige Maß sozialer Kohäsion nicht in Gefahr geriet. Familie, Staat und Kirche waren die dominierenden Muster gesellschaftlichen Zusammenhalts. Er war im Wesentlichen hierarchisch und damit vertikal organisiert. Stabile Rollenmuster - Obrigkeit und Untertan, Lehrer und Schüler, Eltern und Kinder, Männer und Frauen, Herr und Knecht - verbürgten den Zusammenhalt. Seine Strukturen und Inhalte waren traditionsbestimmt.

Wissenschaftlicher Fortschritt und gesellschaftliche Differenzierung trugen zum "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" bei. Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann unter modernen Bedingungen nicht einfach vertikal verordnet, er muss horizontal gestaltet werden. Rollenmuster verflüssigen sich, am Gewebe der Gesellschaft können alle aktiv beteiligt sein. Zusammenhalt durch Beteiligung tritt an die Stelle eines Zusammenhalts durch Anordnung. Die Verschiebung von Erziehungszielen symbolisiert diese Veränderung. An die Stelle von Gehorsam tritt wechselseitiger Respekt, an die Stelle von Pflicht Verantwortung, an die Stelle von Pünktlichkeit Selbstorganisation, an die Stelle von Anpassung verantwortete Freiheit. Die Vision einer demokratischen Gesellschaft beruht darauf, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt auf der Grundlage gleicher Freiheit möglich ist. Auch religiöse Vorstellungen wandeln sich in diesem Zusammenhang. Das Gottesbild des mächtig thronenden Gottvaters tritt in den Hintergrund, Gott als Ursprung und Grund menschlicher Freiheit und Selbsttranszendenz gewinnt an Bedeutung. An die Stelle des hierarchischen Konzepts verfügten Zusammenhalts tritt die Idee, den sozialen Zusammenhalt als "Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit" (Heinrich Bedford-Strohm) zu gestalten. Ein Bild wird entworfen, in dem der Gegensatz zwischen Selbstverwirklichungsinteresse und Gemeinwohlorientierung aufgehoben werden kann, in dem Individualität und Gemeinschaftsfähigkeit sich miteinander verbinden, in dem Diversität und Gerechtigkeit nicht als Alternative verstanden werden. Ein großes Ziel! Gegenwärtig erleben wir eine wichtige Bewährungsprobe für dieses Verständnis gesellschaftlichen Zusammenhalts. Ihr Grund liegt in der radikalen Pluralisierung, die alle modernen Gesellschaften derzeit durchlaufen. Radikal ist diese Pluralisierung, weil sie sich nicht nur auf die Vielfalt von Interessen, sondern auf die Vielfalt von Überzeugungen bezieht. Herkunft, Kultur, Religion, Werte und Lebensform unterscheiden die Menschen in einem Maß, das weiter zu reichen scheint als die sozialen Abstände hierarchisch verfasster Gesellschaften. Das Projekt einer "Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit" stößt mit neuen Fremdheitserfahrungen zusammen.

Radikal ist die Pluralisierung noch aus einem anderen Grund. Die digitalen Medien vervielfachen die Informationen und Beschäftigungen, die Spiele und Sensationen, von denen die einzelnen sich mit Beschlag belegen lassen. Die Zeiten, um sich auszutauschen, miteinander zu spielen, gemeinsam zu essen, freie Zeit zusammen zu verbringen, schrumpfen. Die Zeitschrumpfung ist das Gegenbild zur Zeitspende. Ich sehe eine der elementarsten Herausforderungen für die Erziehung in Familie und Schule, aber auch eine der elementarsten Herausforderungen für die Selbststeuerung von Erwachsenen in der Aufgabe, den Medienkonsum lebensdienlich zu gestalten. Das Ziel sollten nicht die viel beschworenen digital natives, sondern digital kompetente Menschen sein, die die neuen Medien zu nutzen verstehen, ohne sich von ihnen beherrschen zu lassen. Dafür ist die mediale Bildung der Eltern genauso wichtig wie eine digitale Basiskompetenz der Kinder. Die digitale Kompetenz von Verantwortungsträgern ist unentbehrlich, wenn sie einer ihrer Schlüsselaufgaben gewachsen sein sollen: nämlich die persönliche Freiheit und die für sie unaufgebbare Privatsphäre im digitalen Zeitalter zu bewahren. Angesichts solcher Herausforderungen wird man nicht bei der irreführenden Alternative zwischen der Verantwortung des einzelnen und der Zuständigkeit von Staat und Gesellschaft stehen bleiben können. Beides gehört zusammen, die Regeln des Gemeinwesens und die Haltung gesellschaftlicher Akteure. Wenn wir dabei von Zivilgesellschaft sprechen, meinen wir nicht alle Gesellschaftsglieder in diffuser Allgemeinheit, sondern konkret diejenigen, die sich in ihrer Verantwortung für die Zukunft des Gemeinwesens angesprochen wissen und in Anspruch nehmen lassen. Auch in einer Zeit, in welcher der gesellschaftliche Zusammenhalt horizontal gestaltet werden muss, werden Menschen gebraucht, die sich ihrer Verantwortung nicht nur bewusst sind, sondern von ihr auch Gebrauch machen. Die Stiftungslandschaft bietet dafür viel Anschauungsmaterial. Und der Wunsch, dass Berlin auch im Blick auf diese Art bürgerschaftlichen Engagements zur deutschen Hauptstadt wird, ist nicht nostalgisch gemeint, sondern als Ausdruck einer konkreten Hoffnung.

Konkret ist diese Hoffnung vor allem in folgender Hinsicht: Unsere Gesellschaft durchläuft derzeit einen Transformationsprozess, dessen Dimensionen über all das noch hinausgehen, was wir an Veränderungen in den zurückliegenden Jahrzehnten erlebt haben. Diese Veränderungen waren - nehmen wir die Einigung Deutschlands oder die Erweiterung der Europäischen Union als Beispiele - dramatisch genug. Doch die Digitalisierung bildet im Blick auf Arbeit und Wirtschaft, auf Lebensstil und persönliche Verantwortung, auf Bildung und Kommunikation einen Epochenwechsel, der sich in seiner Dramatik am ehesten mit der Einführung des Drucks mit beweglichen Lettern vergleichen lässt. Nach wie vor gilt die Erfindung des Buchdrucks als die entscheidende Innovation des ganzen zweiten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung. Was wir gegenwärtig erleben, ist von vergleichbar umstürzender Bedeutung. Zugleich bewirken Technik, Wirtschaft und Bevölkerungswachstum einen Schub des menschlichen Herrschaftsanspruchs über den Globus; der Übergang zu nachhaltigen Formen des Lebens und Wirtschaftens wird dadurch zu einer allgemeinen Verpflichtung. Zukunftskompetenz und Zukunftsverantwortung werden aus diesen beiden Gründen zu zentralen Aufgaben. Wo haben diese Aufgaben ihren Ort? Neben die Zuständigkeiten des Staates und die Interessen der Wirtschaft muss eine eigenständige zivilgesellschaftliche Verantwortung für Zukunftskompetenz und Zukunftsverantwortung treten. Sie ist bereits in vielen Initiativen von NGOs und Stiftungen lebendig. Doch mir scheint: Sie muss gebündelt werden und kraftvoller als bisher in Erscheinung treten. Denn wir brauchen eine große Debatte über große Zukunftsfragen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt zeigt sich in der Bereitschaft, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Die Stiftungen, die in diesem Feld tätig sind, will ich dazu ermutigen, sich dieser Aufgabe gemeinsam zu stellen. Die Bürgerinnen und Bürger, die verantwortungsbereit und gestaltungsfähig sind, will ich auffordern, die Frage nach einer lebensfähigen Zukunft für Kinder und Enkel genauso wichtig zu nehmen wie die Frage, ob Hunde den Schlachtensee umrunden dürfen.

IV.

Ich werbe damit für eine Rehabilitierung des Gemeinsinns. Genauso wichtig wie das Leben in überschaubaren und verlässlichen Gemeinschaften, genauso wichtig wie die kritische Solidarität mit dem Gemeinwesen und seinen Institutionen ist ein klares Ja zu den großen Aufgaben des Gemeinwohls. Neuerdings wird dieser Begriff wieder unbefangener verwendet als in den Jahrzehnten, die unter dem Bann der Individualisierung standen. Je vielfältiger die Lebensziele der einzelnen werden, desto unentbehrlicher ist es, sich darüber zu verständigen, worin die Güter bestehen, die für alle unentbehrlich sind: auskömmliche und faire Lebensbedingungen, Gesundheit und Lebensglück, stabile und nachhaltige Formen des Wirtschaftens, Sicherheit nach innen und außen, die Freiheit, Überzeugungen zu gewinnen, zu pflegen und zu gestalten, die Möglichkeit, sich Ziele vorzunehmen und Wege zu diesen Zielen zu erkunden. Die heutige Gesellschaft ist ein Netzwerk von Gemeinschaften, die sich bestimmten Werten und Überzeugungen verpflichtet fühlen. Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist jedoch nur dann gewährleistet, wenn es zwischen ihnen einen "übergreifenden Konsens" (John Rawls) gibt, einen ausreichend großen Überschneidungsbereich gemeinsam geteilter Werte. Bei wachsender Diversität wird die Verständigung darüber immer wichtiger. Für sie reicht es nicht, nur allgemein von Wertbindung und Werteerziehung zu reden. Es braucht auch eine Verständigung darüber, welche Werte in einem Gemeinwesen unentbehrlich sind. Bei aller Vorsicht, die dem Gedanken verfassungsrechtlich kodifizierter "Grundwerte" gegenüber angebracht ist, lassen sich doch exemplarisch die grundlegenden Werte nennen, die Udo di Fabio vor einem Jahr an dieser Stelle als gemeinsame Werte der Europäischen Union hervorgehoben hat: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.

Auch für die Religionen sind diese Werte verbindlich. Es reicht nicht, dass sie diese Werte für sich selbst in Anspruch nehmen; sie müssen auch die Fähigkeit unter Beweis stellen, sie aktiv zu fördern und für sie einzutreten. Es reicht nicht, dass sie für sich selbst Religionsfreiheit und Toleranz einfordern; sie müssen Religionsfreiheit und Toleranz auch anderen gegenüber praktizieren. Keinem Angehörigen einer Religion kann es gleichgültig sein, wenn andernorts im Namen dieser Religion Handlungen verübt werden, durch die elementare Rechte mit Füßen getreten und Menschenleben ausgelöscht werden. Die Ausflucht, die Berufung auf die Religion geschehe nur zum Schein, ist versperrt. Aus der Geschichte des Christentums wissen wir, dass wir uns auf eine solche Weise nicht von seinen dunklen Seiten frei zeichnen können. Zum gesellschaftlichen Zusammenhalt können Religionen nur beitragen, wenn sie zur Selbstkritik bereit und fähig sind. Der kritische Umgang mit der eigenen Geschichte gehört zu den wichtigsten Errungenschaften der Moderne, deren Segen auch die Religionen schätzen und in Anspruch nehmen sollten. Damit ist schon gesagt: Religion gewährleistet nicht als solche sozialen Zusammenhalt. So sehr alle Religionen Motive der Liebe zum Nächsten und der Barmherzigkeit mit den Schwachen einschließen, so sehr wurden und werden sie auch zur Grenzziehung gegenüber den anderen benutzt. Religiöse Bindung vermittelt nicht nur Ich-Stärke, sondern wird auch zur Abgrenzung eingesetzt. Aus der Geschichte des Christentums kennen wir Fälle, in denen christliche Kirchen und Gruppen gegeneinander Krieg führten oder doch die Feindschaft kräftig orchestrierten. Das führte in einen Bankrott der Christenheit, aus dem sich die Kirchen zu einem neuen Verständnis ihres Auftrags und ihrer gesellschaftlichen Rolle aufrafften.Keine christliche Konfession hat deshalb einen Grund zur Selbstgerechtigkeit.

Alle müssen vielmehr ein starkes Bewusstsein der eigenen Identität mit einer ebenso starken Bereitschaft dazu verbinden, über die eigenen Grenzen hinauszuschauen und Gemeinsames zu suchen. Das Bewusstsein der Schuld und die Bereitschaft zur Versöhnung bestimmt deshalb den ökumenischen Charakter des Reformationsjubiläums, das die evangelischen Kirchen in diesem Jahr feiern und das dankenswerter Weise auch ökumenisch intensiv begangen wird. Aus eigener Erfahrung haben die Kirchen auch guten Grund dazu, ähnliche Lernprozesse in anderen Religionen zu erhoffen. Eine selbstkritische Haltung ist auch ein guter Ausgangspunkt für den Dialog mit dem Islam und für die Hoffnung, dass Formen des Islam an innerer Kraft gewinnen, die unter dem Dach der Freiheit und der Menschenrechte zu Hause sein wollen. Bei aller Hoffnung, die ich damit zum Ausdruck bringe, verkenne ich nicht, dass der Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften derzeit unter einer ganz spezifischen Bedrohung steht, die mit dem islamistischen Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz durch Anis Amri am 19. Dezember auch Berlin erreicht hat. Denn wir kennen das dschihadistische Drehbuch, das Europa, den "weichen Bauch des Westens", in einen "Bruch" treiben will, wie Gilles Kepel sein neuestes Buch betitelt. Derartige Attentate, so erklärt er zum wiederholten Mal, haben gerade das Ziel, Islam-feindliche Stimmungen zu provozieren und dadurch Polarisierungen in die europäischen Gesellschaften hineinzutragen, an denen der gesellschaftliche Zusammenhalt schließlich zerbrechen soll. Aus Furcht vor einer solchen Polarisierung verharmlosen manche den religiösen Zusammenhang der Terroranschläge, die man nicht einmal mehr "islamistisch" nennen soll, weil doch die Bevölkerung zwischen "islamisch" und "islamistisch" gar nicht unterscheiden könne. Weil pauschale Islamfeindlichkeit gefürchtet wird, soll die notwendige Aufklärung unterbleiben; die damit verbundene Verharmlosung wird in Kauf genommen. Doch an der nötigen Klarheit vorbei ist die Entwicklung zu einem Islam unter dem Dach von Freiheit und Rechtsstaat nicht zu haben. Deshalb bleibe ich bei der Überzeugung, dass Klarheit und gute Nachbarschaft bei diesem Thema unlöslich zusammen gehören.

Doch auch eine andere Klarstellung sollte wenigstens erwähnt werden. Auch Religionslosigkeit gewährleistet nicht als solche sozialen Zusammenhalt. Sie mag die Offenheit für unterschiedliche Lebensformen bestärken; sie kann aber auch das Diesseits für den höchsten Wert halten und damit in eine unbeugsame Ablehnung jeglichen Transzendenzbewusstseins führen. Menschenverachtende Gewalt, so lehrt die geschichtliche Erfahrung, kann mit Religionslosigkeit genauso begründet werden wie mit Religion.

V.

Das führt schließlich zu einer einfachen Frage. Die Frage gilt den Haltungen, mit denen wir den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern können. Gewiss sind vertrauenswürdige Institutionen für diesen Zusammenhalt unerlässlich. Das gilt für die Institutionen des Staats, der Wirtschaft, der Medien, der Wissenschaft, der Kultur, der Religion in gleicher Weise. Gewiss sind mutige Initiativen aus der Zivilgesellschaft unerlässlich: querdenkende NGOs, großzügige Stiftungen, Bewahrer von Tradition wie Förderer von Innovation. Aber ebenso unentbehrlich sind Menschen, die mit ihrem Leben und Tun Haltung beweisen. Denn ohne Menschen mit Haltung gibt es keinen Zusammenhalt. Wenn jemand sich entschließt, etwas Neues zu wagen, und man fragt, was ihn dazu veranlasst, wird er nicht selten vom Beispiel eines anderen berichten; er wird sich an einem Vorbild orientieren. Niemand von uns kann es als seinen Lebenszweck planen, für andere zum Vorbild zu werden; das würde unweigerlich schief gehen. Aber hoffentlich werden junge Menschen, wenn sie sich umschauen, Vorbilder finden, die sie durch ihre Haltung überzeugen.

Welche Haltungen gehen mir durch den Sinn, weil ich mir vorstelle, sie könnten dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft dienlich sein? Ich nenne zuerst die Haltung erinnernder Solidarität. Die Geschichte, aus der wir kommen, ist eine Geschichte der Opfer: der Abgeschobenen und Ausgegrenzten, der aus rassistischen oder eugenischen Gründen Umgebrachten, der in massenmörderischen Kriegen Getöteten. Sie ist nicht nur eine Geschichte der Täter und Mitläufer, sondern auch eine Geschichte des Widerstehens. Zur Zukunftskompetenz gehört das Wissen darum, was sich nicht wiederholen darf. Wir brauchen aber auch eine Haltung erinnernder Solidarität an Opfer wie Widerständige, um zu neuen Ufern aufzubrechen. Mir geht als zweites die Haltung gelebter Überzeugung durch den Sinn. In einer Zeit radikaler Pluralität steht nicht zu erwarten, dass alle sich auf ein und dieselbe religiöse oder weltanschauliche Überzeugung verständigen werden. Eher kann der Fall eintreten, dass viele auf die grundlegenden Fragen nach Ursprung, Sinn und Ziel des Lebens nicht mit einer Haltung, sondern mit Enthaltung reagiert, mit einer allgemeinen Indifferenz, die sich mit einem Anything goes begnügt. Man wird eine solche Indifferenz vielleicht sogar als Toleranz ausgeben. Dabei ist Toleranz doch nur dann ernst gemeint, wenn man bereit ist, das zu achten, was einem anderen wichtig ist. Wie aber soll das möglich sein, wenn einem selbst nichts wichtig ist? Überzeugte Toleranz ist also gefragt; sie setzt Menschen voraus, die für ihre Überzeugungen einstehen. Der Schritt aus der Indifferenz in eine gefestigte Überzeugung ist nicht leicht; aber dem Zusammenhalt hilft er mehr als das behagliche Verharren in der Indifferenz. Zusammenhalt fängt mit dem Interesse am anderen an.

Empathie ist eine Haltung, ohne die es keinen Zusammenhalt gibt. Den anderen Menschen um seiner selbst willen wichtig zu finden, ihn zu lieben wie sich selbst, ihn so zu behandeln, wie man von ihm behandelt werden möchte, ist eine elementare Regel gemeinsamen Lebens. Diese Goldene Regel hat die deutsche Sprache einmal mit einem großartigen Wort belegt. "Zuvorkommend" hat sie einen Menschen genannt, der dem anderen im eigenen Handeln so zuvorkommt, dass der andere es auf vergleichbare Weise erwidert. Wir sollten anfangen, uns darüber zu wundern, warum so viele Menschen die Empathie verlernen, die in der Evolutionsgeschichte der Menschheit wie in der Entwicklungsgeschichte jedes einzelnen angelegt ist. Wir sollten nicht zulassen, dass die Mechanismen von Abgrenzung und Konkurrenz sich so tief in unser Selbstbild eingraben, dass die Fähigkeit zur Empathie verkümmert. Den Zusammenhalt fördern wir am ehesten mit einer Haltung gelassener Zuversicht. Nicht alles gelingt; und auch aus Scheitern lässt sich lernen. Nicht alles ist möglich; solche Demut ist eine wichtige Voraussetzung für mutiges Engagement. Aber die Erfahrung zeigt auch, dass zu Stande kommen kann, was kaum jemand erwartet: die deutsche Einheit mit allen Initiativen, die auf sie folgten, die Trinkwasserversorgung in Israel durch Entsalzung des Meerwassers, eine Energiewende in Deutschland, einhundert Digitalprofessuren in Berlin. Ihnen allen fallen andere Beispiele dafür ein, dass Unerwartetes möglich wird. Gelassen muss die Zuversicht sein, um vor Niederlagen nicht zu kapitulieren. Gelassen muss sie auch sein, weil alles, was wir Menschen zu Stande bringen, vorläufig und endlich ist. Aber mutig muss sie auch sein. Einzelne müssen vorangehen, damit andere sich anschließen. Manchmal muss man das Unmögliche denken, um das Mögliche zu erreichen.