Gerüche in der Stadt

Die Duftforscherin Sissel Tolaas macht aus Gerüchen Kunst

 

Wer Anfang des Jahres in der Hauptstraße des Berliner Stadtteils Wedding, der Müllerstraße, unterwegs war, könnte dabei einer etwas außergewöhnlichen Dame begegnet sein. Sie scheint ihren Weg der Nase nach zu suchen, schnuppert an Blumenbeeten, Straßenschildern, Sitzen von Bushaltestellen, Ladentüren, Lüftungsschächten, Mülleimern, folgt Gerüchen in die Hinterhöfe, fragt Passanten und Ladenbesitzer, was sie mit ihrer Nase wahrnehmen. Prägnante, auch unangenehme Düfte fängt sie mit einer Art Handstaubsauger ein.

Die Dame heißt Sissel Tolaas. Sie ist Chemikerin, Duftforscherin und Künstlerin, kommt aus Norwegen, lebt in Berlin. Sie betreibt in der Müllerstraße olfaktorische Feldforschung für eine Ausstellung in der Schering Stiftung. Dort wird sie im Frühjahr die gesammelten Gerüche präsentieren und ein Duftlabor einrichten, das dazu dient, ihre Arbeitsweise zu demonstrieren: „Ich möchte untersuchen, ob sich die Geschichte der Müllerstraße in ihren Gerüchen widerspiegelt. Und den Besuchern zeigen, wie meine Forschung funktioniert.“

Tolaas spürt charakteristische Düfte eines Stadtteils auf, fängt sie per Trichter und Schlauch in einem kleinen Vakuumsauger ein, schickt sie zur Analyse per Gas-Chromatografie an ein Speziallabor in den USA, erhält als Ergebnis eine Liste der enthaltenen Moleküle, und baut den Duft dann – etwa für Ausstellungen – nach. Dafür hat sie sich 2004 ein eigenes Labor in Berlin-Wilmersdorf eingerichtet, in dem sie rund 4.000 Chemikalien zur Mixtur bereithält. Etwa 10.000 Gerüche hat die Duftforscherin in ihrer Karriere schon gesammelt: von Himbeertorte bis Hundekot, vom Geruch der verlassenen Tabakfabriken Detroits bis zu dem Ostberlins und seiner Kohleöfen, den man heute noch an bestimmten Stellen rund um die Jannowitzbrücke erschnuppern kann.

Für die dritte Berlin-Biennale 2004 hatte Tolaas schon einmal die Düfte der Berliner Stadtteile analysiert: Charlottenburg roch nach feiner Seife, Mitte nach Coffee-Shops und Schuhgeschäften, Neukölln nach Döner und Weichspüler. Städte nutzen Tolaas‘ „Smellscapes“, wie sie ihre urbane Feldforschung nennt, nicht nur für kreatives Marketing: „Sie betreiben auch eine Art olfaktorischen Denkmalschutz und dokumentieren Gerüche, die prägend sind für ihr Stadtbild“, sagt die Duftexpertin. Wie Fotos oder Tondokumente aus vergangener Zeit.

Die Gerüche von über 50 Städten rund um den Globus hat Tolaas schon erkundet, doch nicht nur das. Im Auftrag des Militärhistorischen Museums Dresden hat sie den Geruch des Ersten Weltkriegs rekonstruiert, für Firmen Corporate Design-Düfte entwickelt und der Prominenz bei den Olympischen Spielen in London Limburger Käse mit Originalduft von David Beckhams getragenen Fußballsocken serviert – sie hatte nachgewiesen, dass das prägende Duftmolekül bei beiden das Gleiche ist.

Alltagsgerüche derart erfahrbar zu machen, trägt dazu bei, einen Kanal unserer Wahrnehmung zu sensibilisieren, den wir oft vernachlässigen. „Wir sind vor allem eine visuelle und auditive Kultur“, sagt der US-Anthropologe David Howes. Das Riechen geschieht eher nebenbei. Zumal wir viele starke Gerüche aus den Städten weitgehend verbannt haben: Abwässer fließen heute unter der Erde, Schlachthöfe und Müllhalden wurden ausgelagert, Fabrikschlote erhöht, Luftschneisen und Grünstreifen angelegt. Selbst unseren Körpergeruch übertünchen wir mit Parfum.

Erst 1991 wurde die genaue Funktionsweise des Riechsinns entschlüsselt; die US-Forscher Linda Buck und Richard Axel erhielten dafür den Medizin-Nobelpreis: Unsere Nase dient als eine Art Kamin, der die Luft zum Riechepithel leitet, das hinter den Augen an der Decke der Nasenhöhle liegt. Diese spezielle Schleimhaut verfügt über etwa 350 verschiedene Arten von Duftrezeptoren, verteilt auf rund 25 Millionen Sinneszellen. Wie ein Mischpult kombinieren die Sinneszellen die Moleküle zu einer Duftnote wie Klänge zu einem Musikstück. Der Riechkolben ist eng mit Hirnarealen verknüpft, die für Emotion, Erinnerung und Entscheidungsfindung zuständig sind. Darum reagieren wir auf Gerüche oft instinktiv ohne nachzudenken, und darum lassen uns Gerüche aus der Kindheit nostalgisch werden. Zwar haben Hunde oder Ratten weit mehr Rezeptoren. Doch eine Studie aus dem Jahr 2014 ergab, dass auch Menschen über eine Billion Gerüche unterscheiden können – mehr als Farben (einige Millionen) und mehr als Klänge (etwa eine halbe Million).

Unsere Nase vermittelt uns also ein sehr differenziertes Bild, wenn wir ihr nur zuhören. Und wer seine Nase trainiert, dem werden auch die Funktionen des Riechsinns klarer: Zum einen bewahrt er uns vor Gefahren. Der Gestank verdorbener Speisen und gefährlicher Substanzen hält uns davon ab, uns selbst zu vergiften. Umgekehrt locken uns Wohlgerüche etwa zu energiereichen Speisen. Oder animieren zum Einkaufen: Darum versprühen heutzutage Supermärkte gezielt das Aroma frischer Brötchen, Gebrauchtwagen werden mit Duftsprays auf neu getrimmt, in manchen Reisebüros riecht es nach Kokosnuss oder Piña Colada. „Wir glauben inzwischen, dass das Befinden wesentlich mit dem Geruch zusammenhängt“, sagt der Bochumer Riechforscher Hanns Hatt. „Und ohne dass wir es merken, trägt die Dufterinnerung zu Entscheidungen bei.“

Auch bei der Partnerwahl, so haben Studien gezeigt, spielt Körpergeruch eine größere Rolle, als uns bewusst ist; er entscheidet mit, ob die Chemie zwischen zwei Menschen stimmt. Dabei kommen sogenannte Pheromone zum Tragen. Das sind spezielle unterschwellige Duftstoffe, von denen man weiß, dass sie über ganz eigene Rezeptoren identifiziert werden und das Sozialverhalten vieler Tierarten regeln. Beim Menschen wird ihre Rolle erst allmählich entschlüsselt. „Klar ist inzwischen, dass der Duftcocktail eines Menschen eng mit seinem Immunsystem zusammenhängt“, sagt Bettina Pause, Biologische Psychologin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. „Wir mögen Menschen mit anderer immunogenetischer Ausstattung, weil die Kombination möglichst unterschiedlicher Gene die Abwehrkräfte des Nachwuchses begünstigt. Und ob man sich gut ergänzt, wird über den Geruch vermittelt.“

Versuche, in denen Frauen an getragenen T-Shirts von Männern schnupperten und deren Wirkung auf sie beschrieben, haben dies bestätigt: Menschen, die uns immunogenetisch zu ähnlich sind, riechen für uns eher abstoßend. Und auch der Wirkung von Pheromonen kommen Forscher allmählich auf die Spur: Hedion etwa ist ein künstlicher Duftstoff, der viele an Jasmin erinnert und sehr beliebt bei Parfumeuren ist. In Studien, an denen Hanns Hatt beteiligt war, dockte diese Substanz an einen der speziellen Pheromonrezeptoren an und aktivierte eine Hirnregion, die an der Hormonsteuerung beteiligt ist. Probanden – insbesondere Frauen –, die unbewusst Hedion rochen, reagierten in Verhaltensexperimenten noch freundlicher auf nette Menschen und noch unfreundlicher auf weniger nette. Ihr sogenanntes reziprokes Verhalten wurde also verstärkt. Unklar ist noch, welches menschliche Duftmolekül dem synthetischen Hedion womöglich entspricht. Schweiß ist eine enorm komplexe Mischung aus hunderten Stoffen.

Offenbar filtert unsere Nase daraus aber wichtige Informationen: Babys erkennen am Geruch ihre Mutter. Und Frauen, so haben schwedische Neuropsychologen gezeigt, reagieren instinktiv auf den Geruch von Babys. Wie ein Rauschmittel aktiviert er ihr Belohnungszentrum im Gehirn. Nun wollen die Forscher herausfinden, welche Stoffe dabei entscheidend sind – womöglich können sie helfen, bessere Medikamente gegen Depressionen zu entwickeln.

Sogar bei der Diagnostik von Krankheiten können Gerüche helfen. Britische Gesundheitsbehörden testen aktuell einen neuen Apparat ähnlich dem Alkoholtestgerät der Verkehrspolizei, der Krankheiten wie Krebs, Morbus Crohn, Parkinson und Alzheimer anhand ihrer jeweiligen Geruchsprofile erkennen soll, lange bevor andere Symptome auftreten. Die Leiden führen zu speziellen Stoffwechselprodukten, die über den Atem oder Körperausdünstungen ausgeschieden werden und so für einen markanten Duft sorgen.

So zeigt sich: In der Welt der Gerüche tun sich für uns künstlerisch und wissenschaftlich völlig neue Möglichkeiten auf. Und das nicht nur dank der modernen Technik – sondern auch, weil es Menschen wie Sissel Tolaas gibt, die bereit sind, ganz genau hinzuriechen.

 

Schering Stiftung

Projektraum
Unter den Linden 32-34
10117 Berlin

Ausstellungseröffnung: 10.04.2019, 18 Uhr
Laufzeit: 11.04.-24.06.2019
Eintritt frei
Do-Mo, 13-19 Uhr